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Ko-konstruktives Lesen im KI-Zeitalter: Zwischen Hermeneutik und digitaler Innovation

Aktualisiert: 2. Mai

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„Wer liest heute eigentlich noch ein ganzes Buch?“ – so fragt nicht zuletzt die ZEIT in einem aktuellen Beitrag und trifft damit auch einen wunden Punkt im Bildungsdiskurs. Immer wieder wird der Rückgang klassischer Lesepraxis beklagt – von Lehrkräften, Eltern und Kulturschaffenden gleichermaßen. Diese Sorge ist keineswegs neu, auch wenn sie im KI-Zeitalter neue Dringlichkeit gewinnt: Jugendliche greifen seltener zum analogen Buch, Lesezeiten verkürzen sich, Aufmerksamkeitsspannen schwinden. Schnell entsteht der Eindruck, dass Lesen als Kulturtechnik, insbesondere auch in Schule und Unterricht, an Bedeutung verliert.

Doch gerade hier, im vermeintlichen Niedergang, eröffnet sich eine überraschende Chance: KI-gestützte Technologien wie ChatGPT können neue Wege zum Lesen und Denken eröffnen. Statt Lesen nur als lineare Rezeption zu begreifen, ermöglichen Sprachmodelle einen dialogischen Zugang zum Text. Nutzer:innen können Fragen stellen, Zusammenfassungen abrufen, Perspektiven simulieren – und so aktiv mit dem Text in Beziehung treten.

Besonders für junge Menschen, die klassische Buchformate zunehmend meiden, kann dies eine Brücke zur Lesefreude schlagen. KI kann Inhalte vorlesen, Impulse setzen oder das Weiterdenken spielerisch unterstützen. Impulsfragen wie „Stimmt das?“, „Wie würdest du das anders sagen?“, „Erkläre mir das genauer“, „Was bedeutet dieser Begriff in diesem Zusammenhang?“, „Welche Gegenposition könnte man dazu vertreten?“ oder „Welche Folgegedanken lassen sich daraus ableiten?“ regen zum Nachdenken an, fördern Textverstehen auf mehreren Ebenen und eröffnen kreative Räume.

Das daraus entstehende Konzept des ko-konstruktiven Lesens beschreibt genau diesen Prozess: Der Mensch liest nicht nur, er denkt gemeinsam mit der KI, prüft, erweitert, widerspricht. Lesen wird dadurch unmittelbarer, interaktiver und potenziell motivierender. Es geht nicht um Ersatz, sondern um Erweiterung. Klassisches Lesen wird ergänzt durch digitale Resonanzräume – und gewinnt dadurch eine neue Tiefe.

Dabei stellt sich auch provokant die Frage: Werden KI-generierte Inhalte überhaupt noch bewusst gelesen – oder bloß konsumiert, überflogen, als funktionales Werkzeug genutzt? Wird der Text in seiner Tiefe erschlossen – oder lediglich zur schnellen Informationsbeschaffung degradiert? Genau hier liegt eine zentrale Bildungsaufgabe: Leser:innen müssen neu lernen, was es heißt, sich auf einen Text einzulassen – auch (und gerade) dann, wenn dieser von einer Maschine stammt. Sie müssen KI-Ergebnisse nicht nur aufnehmen, sondern kritisch prüfen, hinterfragen, kontextualisieren und davon ausgehend eigenständig weiterdenken. Der Leseprozess bleibt dadurch anspruchsvoll – ja, er wird sogar komplexer, weil er sich auf zwei Ebenen abspielt: auf der Textebene selbst und auf der Metaebene des Entstehungskontexts. In einer Welt, in der Inhalte massenhaft produziert und bereitgestellt werden, gewinnt bewusstes, reflektiertes Lesen an Gewicht – als Akt der geistigen Selbstbestimmung und als Grundlage kultureller Urteilskraft.



Wissenschaftliche Grundlagen des Lesens: Rezeptionsästhetik und moderne Lesedidaktik

Die Leseerfahrung verändert sich radikal – aber nicht erst seit heute. Schon die Rezeptionsästhetik von Hans Robert Jauß und Wolfgang Iser stellte fest, dass Lesen niemals passives Aufnehmen, sondern stets aktives Erschließen von Sinn ist. Der Leser tritt in einen Dialog mit dem Text, füllt Leerstellen, interpretiert und bewertet. Dieser dialogische Charakter des Lesens wird heute durch KI-gestützte Technologien wie ChatGPT neu beleuchtet und vertieft: Wir lesen nicht mehr nur linear und allein, sondern zunehmend ko-konstruktiv, im Austausch mit künstlicher Intelligenz.

Auch kognitive Lesemodelle betonen seit langem, dass sinnentnehmendes Lesen auf aktiven Strategien wie Inferenzen, Hypothesenbildung und Verknüpfung von Weltwissen basiert. Didaktische Ansätze wie das Mehrebenenmodell von Rosebrock und Nix verdeutlichen, dass Verstehen, Motivation und sozial-kommunikative Anschlussfähigkeit zusammenwirken müssen. Der Begriff des „ko-konstruktiven Lesens“ lässt sich an dieser Stelle sinnvoll einführen: Er knüpft an bestehende Erkenntnisse an und überführt sie in die digitale Dimension – Lesen wird so zu einem dialogischen Prozess zwischen Mensch und Maschine, zwischen Interpretation und Inspiration.



Ko-konstruktives Lesen: dialogische Textwelten und digitale Hermeneutik

Die Idee des ko-konstruktiven Lesens erhält im Kontext aktueller KI-Entwicklungen neue Brisanz. KI-Sprachmodelle ermöglichen uns nicht nur, Texte rascher zusammenzufassen und zu filtern, sondern eröffnen dialogische Räume, in denen Texte dynamisch weitergedacht werden können. Doch gerade in dieser Erweiterung lauern auch Risiken: Oberflächlichkeit, Fehlinformationen und fehlende kritische Distanz sind potenzielle Nebenwirkungen einer zu unreflektierten Nutzung von KI. Schüler:innen müssen lernen, KI-Outputs nicht nur inhaltlich kritisch zu hinterfragen, sondern auch gezielt auf mögliche Verzerrungen (Bias) und stereotype Formulierungen zu achten. Sie sollten befähigt werden, zwischen substanziellen, inhaltlich tragfähigen Aussagen und algorithmisch erzeugter sprachlicher Glätte zu unterscheiden. Dazu gehört die Fähigkeit, die Herkunft von Aussagen kritisch zu hinterfragen, deren Kontext einzuordnen und die Qualität der zugrunde liegenden Quellen zu bewerten. Entscheidend ist ebenfalls das Bewusstsein dafür, dass stilistische Flüssigkeit allein weder Wahrheitsgehalt noch gedankliche Tiefe garantiert – insbesondere, WEIL KI-Modelle oft plausible, aber nicht überprüfte Inhalte generieren, die auf bloßer Wahrscheinlichkeitsberechnung fußen. Die Schulung solcher Analyse- und Urteilsfähigkeiten ist keine optionale Ergänzung, sondern ein zentrales Element zeitgemäßer Lesekompetenz im digitalen Zeitalter.

Aus philosophischer und literaturwissenschaftlicher Perspektive verändert KI grundlegende Kategorien unserer Lesekultur: Autorschaft wird diffus, hermeneutische Prozesse der Erkenntnisgenese durch Mustererkennung („Distant Reading“) müssen ständig neu validiert werden. Wahrheit tritt häufig hinter Plausibilität zurück, weshalb menschliche Prüf- und Interpretationsfähigkeiten unabdingbar bleiben. Genau hier liegt aber zugleich das Potenzial eines ko-konstruktiven Lesebegriffs, der menschliche Interpretation und KI-Inspiration eng miteinander verzahnt.



Ko-Konstruktives Lesen als neue Unterrichtspraxis

Wie lässt sich dieser Ansatz im schulischen Alltag praktisch umsetzen? Ein erster Schritt wäre die gezielte Vermittlung einer kritischen KI-Lesekompetenz. Lehrkräfte könnten etwa kollaborative Annotationen mithilfe digitaler Tools (wie hypothes.is oder Perusall) einsetzen, bei denen Schülerinnen gemeinsam mit einer KI-Assistenz Interpretationsvarianten explorieren und diese anschließend reflektieren. Auch das reziproke Lesen lässt sich durch den gezielten Einsatz von KI innovativ erweitern: Schülerinnen und Schüler können nicht nur mit ihren Mitschüler:innen, sondern auch mit der KI als dialogischem Gegenüber in Rollen schlüpfen, unterschiedliche Perspektiven zu einem Text einnehmen und gegeneinander abwägen. Die KI kann dabei argumentative Positionen simulieren, Perspektivwechsel anregen oder gezielte Nachfragen stellen – wodurch der klassische Leseprozess um eine diskursive, reflektierende Dimension ergänzt wird. So wird aus dem Lesen ein dialogisches Interpretieren, das sowohl die individuelle Urteilskompetenz als auch die kollektive Argumentationsfähigkeit stärkt.

Die Fähigkeit, präzise und kreative Prompts für KI zu formulieren (Prompt-Literacy), wird dabei zu einer Schlüsselkompetenz. Schüler:innen lernen so, nicht nur passiv KI-generierte Antworten zu konsumieren, sondern aktiv ihren eigenen Lesedialog zu gestalten und zu steuern.



Lernen aus der Wikipedia-Erfahrung

Historisch gesehen erinnert diese Situation an das sogenannte „Wikipedia-Dilemma“ als "partizipatives Dilemma": Die anfängliche Skepsis gegenüber Wikipedia wich allmählich einer bewussten, kritischen und zugleich produktiven Nutzung. Schulen und Hochschulen können aus diesen Erfahrungen lernen und KI-Tools als Teil einer reflektierten und kritisch geleiteten Lernkultur integrieren, anstatt sie zu verbieten oder aus Angst vor Kontrollverlust auszuschließen.



Deutsch als Schlüsselfach im KI-Zeitalter: Bedeutungsverlust oder Bedeutungsgewinn?

Gerade vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen gewinnt das Fach Deutsch massiv an Bedeutung. Lesekompetenz, Textverständnis und kritisches Urteilsvermögen werden nicht etwa weniger wichtig, sondern bleiben Schlüsselkompetenzen in einer Welt, in der Deepfakes, KI-generierte Texte und manipulierte Inhalte allgegenwärtig sind. Die Fähigkeit, echte von konstruierten Informationen zu unterscheiden, wird zu einem Überlebenswerkzeug – auch wenn, wie aktuelle Forschungen zeigen, selbst KI-Modelle oft nicht sicher erkennen können, ob ein Text von Menschen oder Maschinen stammt.

Deutschunterricht könnte künftig verstärkt darauf setzen, kreative Lesestrategien zu fördern, fantasievolle Welten gemeinsam zu erschließen und ko-konstruktive Lese- und Schreibprozesse zu etablieren. Man könnte sich vorstellen, dass Romane oder Jugendbücher im Unterricht zunehmend offene, nicht-lineare Strukturen aufweisen, bei denen Leser:innen mit Hilfe von KI Ideen weiterspinnen, alternative Handlungsstränge entwickeln oder immersiv eigene Geschichten gestalten.

Das Lesen wird damit nicht abgeschafft, sondern transformiert: Es wird zur Grundlage kreativer Prozesse, zur Geburtsstätte neuer Ideen, die sowohl für die literarische als auch für die wirtschaftliche und gesellschaftliche Zukunft essenziell sind. Gerade in der Entwicklung von Business-Ideen, Innovationen und neuen Projekten wird eine hohe Lesekompetenz – verstanden als Fähigkeit, Informationen kritisch zu deuten, kreativ zu verarbeiten und daraus Neues zu schaffen – unverzichtbar.



Praktische Empfehlungen für Lehrkräfte, die sich mit dem Ansatz des ko-konstruktiven Lesens auseinandersetzen wollen:


  • Kollaborative Annotationen: Gemeinsames Erstellen digitaler Anmerkungen, ergänzt durch KI-generierte Inputs, schafft differenzierte Textverständnisse und vertieft den Austausch in der Klasse.

  • Prompt-Training: Übungsreihen zu wirksamen Fragestellungen an KI entwickeln, die Schüler:innen zur differenzierten Auseinandersetzung mit Texten anregen.

  • Reflexionsphasen: Regelmäßiges Besprechen von KI-generierten Inhalten in Bezug auf Herkunft, Wahrheitsgehalt und mögliche Biases.

  • Rollenspiele und Perspektivwechsel: KI-basierte Simulationen verschiedener Interpretationsperspektiven, die den Schülerinnen und Schülern helfen, hermeneutische Kompetenzen aktiv auszubauen.


🧠 Unterrichtseinheit: „Lesen im Dialog – Mit KI Texte verstehen, hinterfragen und gestalten“

Dauer: 2–3 Doppelstunden

Fächer: Deutsch, Ethik, Geschichte oder fächerübergreifend

Zielgruppe: Sekundarstufe I/II

Voraussetzung: Zugang zu einem KI-Tool wie ChatGPT oder einem datenschutzkonformen Schul-KI-Tool (z. B. fobizz, GPTschule)


🧩 Lernziele

  • Texte kollaborativ und kritisch mit digitalen Annotationstools erschließen

  • Wirksame Prompts formulieren und die Reaktionen der KI analysieren

  • KI-generierte Inhalte auf Bias, Faktentreue und Argumentationsstruktur prüfen

  • Perspektivwechsel durch KI-gestützte Rollenspiele erleben und reflektieren


🛠️ Ablaufplan (stundenübergreifend)


1. Einstieg: KI als Lesepartner (45 Min.)

  • Impulsfrage: „Wie verändert sich das Lesen, wenn eine KI mitliest, mitdenkt und mitdiskutiert?“

  • Einführung in das Konzept des ko-konstruktiven Lesens

  • Vorstellung des KI-Tools und seiner Funktionen (z.B. Perusall)


2. Kollaborative Annotation mit KI (45 Min.)

  • Die Klasse liest gemeinsam einen Text (z. B. eine Kurzgeschichte oder einen Sachtext)

  • In Kleingruppen werden digitale Annotationen erstellt, ergänzt durch KI-generierte Kommentare

  • Diskussion über die Unterschiede zwischen menschlichen und KI-Anmerkungen


3. Prompt-Training: Fragen an die KI (45 Min.)

  • Schüler:innen entwickeln eigene Prompts, um spezifische Informationen oder Perspektiven vom KI-Tool zu erhalten

  • Analyse der KI-Antworten hinsichtlich Tiefe, Relevanz und möglicher Bias

  • Reflexion über die Qualität der gestellten Fragen und der erhaltenen Antworten


4. Rollenspiele: Perspektivwechsel mit KI (60 Min.)

  • Die KI übernimmt verschiedene Rollen (z. B. Autor:in, Kritiker:in, Zeitzeug:in) und diskutiert mit den Schüler:innen über den Text

  • Schüler:innen schlüpfen ebenfalls in unterschiedliche Rollen und interagieren mit der KI

  • Ziel ist es, verschiedene Interpretationen und Argumentationslinien zu erkunden


5. Reflexionsphase: KI als Lernpartner (30 Min.)

  • Gemeinsame Diskussion über die Erfahrungen mit der KI im Leseprozess

  • Bewertung der Vor- und Nachteile der KI-Unterstützung

  • Überlegungen, wie KI sinnvoll in zukünftige Lernprozesse integriert werden kann


🧰 Materialien & Tools

📚 Weiterführende Ressourcen und Impulse



Fazit: Erweiterung statt Vereinfachung

Ko-konstruktives Lesen im KI-Zeitalter bedeutet nicht die Aufgabe klassischer hermeneutischer Verfahren, sondern deren bewusste Erweiterung und Vertiefung. Die dialogische Interaktion mit KI eröffnet neue Räume des Denkens und der Kreativität – immer vorausgesetzt, dass Schülerinnen und Schüler darin geschult werden, kritische Distanz und menschliches Urteilsvermögen zu bewahren. In diesem Sinne bleibt Lesen zutiefst menschlich, gewinnt aber neue, spannende Impulse durch intelligente, digitale Partner.



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